Hannah Arendts Interesse an der Politik blieb in den 1920er-Jahren sehr gering. Die Philosophie mit ihrer Frage nach dem Wesen der Dinge blieb vorerst ihre einzige Leidenschaft. Die Bekanntschaft mit Kurt Blumenfeld 1928, einem glühenden Zionisten, änderte zunehmend diese Einstellung, indem sie sich von jetzt an stärker mit ihrer jüdischen Identität auseinandersetzte. 1930 begann sie mit der Arbeit an einer Biografie über Rahel Varnhagen, die sie 1938 beendete. Sie erzählt die Lebensgeschichte einer jüdischen Außenseiterin in der Zeit der Aufklärung, die sich vergeblich in einer judenfeindlichen Gesellschaft zu assimilieren versucht. Durch die Arbeit blickt Arendt mit geschärftem historischen Bewusstsein auf den Aufstieg des rassistischen Antisemitismus in Gestalt in des Nationalsozialismus und erkennt besser ihre eigene Außenseiterposition in der deutschen Gesellschaft. Sie entwickelt sich zu einer bewusst politisch denkenden Zeitgenössin. Ihr Werk über die Jüdin Rahel Varnhagen enthält starke autobiografische Züge. Der Siegeszug der NSDAP und die so gesteigerte persönliche Erfahrungen, von den politischen Umständen abhängig zu sein, führte zu einer stetigen Politisierung Ihres Denkens. Sie erreichte durch die schnelle Bereitschaft vieler deutscher intellektueller 1933, das neue nationalsozialistische Regime anzuerkennen, ihren vorläufigen Höhepunkt. Vor allem das Verhalten Heideggers verletzte sie zutiefst, letztlich bis an das Ende ihrer beiden Leben.
Politische Tat
Für Hannah Arendt bedeutete die nationalsozialistische Machtergreifung nicht nur eine Flucht aus Deutschland, sondern auch eine Flucht aus der Philosophie. Ihre Exiljahre 1933 – 1945 verbrachte sie bis 1941 in Paris, später dann in den SA, wo sie auch ihre deutsche Staatsbürgerschaft verlor. „Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein“, schreibt sie emphatisch 1943 in einem kleinen Essay über ihr Flüchtlingsdasein. Die Jahre bis Kriegsende waren gekennzeichnet durch einen unermüdlichen Kampf gegen den Nationalsozialismus mit seinen katastrophalen Auswirkungen für das europäische Judentum. Der Kampf war anfangs vor allem politisch-praktischer Natur. So schloss sie sich diversen zionistischen Gruppierungen an, anfangs hauptsächlich wegen des angeblich zu sehr assimilierten jüdischen Establishments in Frankreich. Trotz aller vermeintlichen Aussichtslosigkeit versuchte Hannah Arendt mit allen politischen Mitteln gegen den Nationalsozialismus zu kämpfen. SO rief sie etwa in Frankreich zahlreich zu Demonstrationen auf und plädierte später in den SA für den Aufbau einer eigenen jüdischen Armee. Sie war Mitglied in vielen Organisationen, wobei sie auch in dieser Zeit skeptisch gegenüber großen Organisationen blieb und stets versuchte, prinzipiell individuell zu handeln. Neben der praktischen Politik agierte sie aber auch als Publizistin. Sie schrieb sich die Finger wund. Sie arbeitete u.a. für die Zeitschriften Aufbau und Partisan Review sowie für die „Jewish Cultural Reconstruction“. In zahlreichen Vorträgen und Artikeln versuchte sie ab 1941 die US-amerikanische Öffentlichkeit auf das Schicksal der Juden im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich aufmerksam zu machen. Dies und die Erfahrung, dass die Welt vor allem am Anfang dem Schicksal der Juden im Nationalsozialismus gleichgültig gegenüberstand, war sicherlich ein gewichtiger Grund, warum Arendt in ihren späteren theoretischen Schriften das Handeln zur zentralen politischen Kategorie erhob.
„Politisch denken und historisch sehen“
Arendts Hinwendung zur politischen Tat ist durch den Einfluss ihres zweiten Mannes Heinrich Blücher, eines ehemaligen Kommunisten und studierten Militärhistoriker, verstärkt worden. Durch diesen lernte Hannah Arendt erst richtig „politisch denken und historisch sehen“, wie sie am 29. Januar 1946 an ihren engen Vertrauten Karl Jaspers in einem Brief schrieb. Arendts politischer Aktivismus änderte sich substanziell, als sie 1943 zum ersten Mal von der systematischen Judenausrottung in den Gaskammern der nationalsozialistischen Vernichtungslager hörte. Als sie von den Ereignissen in Auschwitz erfuhr, war das nicht nur ein persönlicher Schock, sondern bildete auch einen entscheidenden Einschnitt in ihrem politischen Denken. In einem Interview mit Günter Gaus, mehr als zwanzig Jahre, 1964 für das deutsche Fernsehen geführt, wird dies deutlich. Auf die Frage, wie sie damals auf das Wissen um das Geschehen in Auschwitz reagiert hätte, sagte sie:
„Und erst haben wir es [Auschwitz] nicht geglaubt. Obwohl mein Mann und ich eigentlich immer sagten, wir trauen der Bande alles zu. Dies aber haben wir nicht geglaubt, auch weil es ja gegen alle militärischen Notwendigkeiten und Bedürfnisse war. Mein Mann ist ehemaliger Militärhistoriker, er versteht etwas von den Dingen. Er hat gesagt, laß dir keine Geschichten einreden; das können sie nicht mehr! Und dann haben wir es ein halbes Jahr später doch geglaubt, weil es uns bewiesen wurde. Das ist der eigentliche Schock gewesen. Vorher hat man sich gesagt: Nun ja, man hat halt Feinde. Das ist doch ganz natürlich. Warum soll ein Volk keine Feinde haben? Aber dies ist anders gewesen. Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet. Weil man die Vorstellung gehabt hat, alles andere hätte irgendwie noch einmal gutgemacht werden können, wie in der Politik ja alles einmal wieder gutgemacht werden können muss. Dies nicht. Dies hätte nie geschehen dürfen. Und damit meine ich nicht die Zahl der Opfer. Ich meine die Fabrikation der Leichen und so weiter – ich brauche mich darauf ja nicht weiter einzulassen. Dieses hätte nicht geschehen dürfen. Da ist irgendetwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden. Über alle anderen Sachen, die da passiert sind, muss ich sagen: Das war manchmal ein bisschen schwierig, man war sehr arm, und man war verfolgt, man musste fliehen, und man musste sich durchschwindeln und was immer; wie das halt so ist. Aber wir waren jung. Mir hat es sogar noch ein bisschen Spaß gemacht. Das kann ich gar nicht anders sagen. Dies jedoch, dies nicht. Das war etwas ganz anderes. Mit allem andern konnte man auch persönlich fertig werden.“
„Das kann nicht noch nie irgendwie gutgemacht werden“
Das Wissen um Auschwitz war für Hannah Arendt also mehr als nur ein gewaltiger persönlicher Schock, mehr auch als nur eine weitere Potenzierung der schrecklichen Ereignisse im nationalsozialistisch besetzten Europa; die fabrikmäßige, systematische Ermordung der europäischen Juden stellte für Hannah Arendt vielmehr ein bisher in der Geschichte bzw. politischen Tradition unbekanntes Novum dar. „Auschwitz“ empfand sie als einen radikalen Traditionsbruch nicht nur abendländischen Geschichte, sondern auch des bisherigen politischen Denkens überhaupt. „Zweifellos haben [die Handlungen des Totalitarismus) unsere Kategorien des politischen Denkens und unsere Maßstäbe für das moralische Urteil gesprengt“, schrieb Hannah Arendt 1953 in ihrem Essay „Verstehen und Politik“. Hannah Arendt zog auch persönliche Konsequenzen aus ihrem Urteil eines radikalen Bruchs. Immer mehr zog sie sich aus dem politisch-praktischen Engagement zurück und wandte sich wieder der vita contemplativa zu, kam wieder ihren Ursprüngen von der theoretischen Beobachtung näher. Die Fragen „Was war geschehen?“, „Warum war es geschehen?“ und „Wie konnte es geschehen?“ ließen Hannah Arendt von jetzt nicht mehr los. So begann sie 1944 in ununterbrochener Arbeit diese Fragen zu reflektieren. Deren erste Antworten wurden nach mehreren Änderungen 1951 erstmals unter dem Titel „The Origins oft he Totalitarism“ veröffentlicht.
Die Figur des Parias als Antwort auf den Totalitarismus
Die Vernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Regime war auch ein persönliches Ereignis, ein elementarer Bruch in ihrem persönlichen Selbstverständnis. Sowohl als Jüdin als auch als Deutsche fühlte sie sich von den Ereignissen unmittelbar betroffen. Zumindest der deutschen Kultur fühlte sie sich auch in ihren Jahren im Exil immer eng verbunden. Diese betrachtete sie immer als eine gewisse „geistige Heimat“. Diese Heimat war für sie nun für immer verbunden. Sie bezeichnete sich in jeder Beziehung als „staatenlos“. Heimatlos und auch frustriert über die weiteren politischen Entwicklungen im Judentum, – sie lehnte vor allem den wachsenden Nationalismus der Zionisten ab - , sah sie auch für sich persönlich nur noch die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, und, wie sie in einem Brief an Jaspers schrieb, „eine menschenwürdige Existenz am Rande der Gesellschaft“ zu führen. Dieses Außenseiterdasein analysierte Hannah Arendt theoretisch in „Rahel Varnhagen“, verinnerlichte es aber persönlich erst wirklich nach 1945. Die eigene empfundene Welt- und Heimatlosigkeit sollten für ihren gesamten weiteren publizistischen und persönlichen Lebenslauf kennzeichnend werden. „Der Paria ist ihre erste theoretische und politische Antwort auf den Totalitarismus“, konstatierte Ingeborg Nordmann in ihrer Biografie von 1994.
Die Judenvernichtung hat Hannah Arendt gegenüber Karl
Jaspers in einem Brief vom 18. November 1945 als „Höllenspektakel“ der
Nationalsozialisten bezeichnet, durch das die Welt aus den Fugen geraten ist.
Sie bedeutete für Arendt einen Neubeginn sowohl in ihrer Biografie als auch in
ihrem politischen Denken. Ihr Werk Origins of the Totalitarism stellte
den Versuch dar, diesen Traditionsbruch in aller Radikalität durchzudenken und
daraus ein neues politiktheoretisches Paradigma von der „totalen Herrschaft“ zu
entwickeln. Zum ersten Mal konnte sie hier die konkrete politische und
geschichtliche Erfahrung mit ihrer theoretisch-philosophischen Ausbildung
verbinden.
Literaturverweise u.a:
Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt – Leben, Werk und Zeit, Frankfurt 1991.
Ingeborg Nordmann, Hannah Arendt, Frankfurt 1994.
Karl-Heinz Breuer, Hannah Arendt, Berlin 1992.
Alois Prinz, Hannah Arendt oder Die Liebe zur Welt, Berlin 2012.
es ist immer wieder schade zu sehen, wie arendt auf die ns zeit
und den totalitarismus reduziert wird. viel wichtiger wäre eine
einordnung ihres weltbildes zur heutigen situation.
die heutigen oligarchien des westens, haben mit der demokratie
und bürgervision der arendt nichts gemein.
jaspers hat diese fehlentwicklung beschrieben und arendt damit
bestätigt. die deutschen intellektuellen haben sie längst vergessen,
zu stark hat sie sich für eigenständiges bürgerliches denken und
handeln ausgesprochen. h. köhler