Als Hannah Arendt und ihr Ehemann Heinrich Blücher 1941 New York erreichten, waren sie zum ersten Mal wirklich in Sicherheit. Raus aus Europa, das inzwischen wesentlich unter der Hegemonie von Nazi-Deutschland stand. In einem fremden Land standen sie vor einer ungewissen Zukunft. Hannah Arendt stürzte sich in ihr neues Leben wie in ein neues Abenteuer. Wenn ihr Lebensstandard auch äußert bescheiden war, lebte sich Hannah Arendt auf den ersten Blick gut ein – sie lernte schnell die englische Sprache, mischte sich in die aktuellen politischen Debatten der jüdischen Exilanten ein. Sie publizierte und hielt Vorträge. Vor allem stritt sie sich mit jüdischen Exilanten über den Sinn der Aufstellung einer eigenen jüdischen Armee. Das Wissen um die Existenz von Auschwitz 1943 war eine Zäsur – gerade auch eine intellektuelle. Den von ihr so empfundenen elementaren Traditionsbruch in seiner Genese und seinen Bedingungen nachzuforschen, wurde zu ihrer Lebensaufgabe. Auch ihre eigene prekäre Situation reflektierte sie im Licht des Traditionsbruchs. Der Essay „Wir Flüchtlinge“, veröffentlicht im Januar 1943 im New Yorker amerikanisch-jüdischen Intellektuellen-Journal Menorah Journal, ist ein kurzer Aufsatz, dem Hannah Arendt wohl seinerzeit gar nicht so viel Beachtung schenkte. Er ist erst 1986 übersetzt worden und ist gerade im Zuge der politischen Krise in Folge der Zunahme der weltweiten Migrationsbewegungen viel rezipiert und beachtet worden. Die eindringliche Beschreibung des Flüchtlingsdasein im rechtlichen Niemandsland, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Angst, entkleidet den Essay für heutige Leser seinem historischen Hintergrund und macht ihn scheinbar bis heute tagespolitisch instrumentalisierbar. Zum ersten Mal verknüpft Hannah Arendt ausdrücklich ihr persönliches Schicksal mit der allgemeinen Diagnose des Traditionsbruchs, was dem Text eine zeitlose, weil existenzialistische Emphase verleiht – und als Musterbeispiel für die Selbstreflexionskunst von Hannah Arendt gelten kann.
Bereits im ersten auf der ersten Seite weist sie den eigenen
Status eines „Flüchtlings“ zurück, weil die Bezeichnung ihre ursprüngliche
Bedeutung verloren habe. Flüchtling ist nicht mehr wie bisher, „wer aufgrund
seiner Taten oder seiner politischen Anschauungen gezwungen war, Zuflucht zu
suchen.“(S. 1). Die Juden sind Flüchtlinge neuen Typs. Sie sind Entrechtete
und Staatenlose, die aus von ihrem eigenen Handeln völlig unabhängigen Gründen
willkürlich über die erde gejagt werden und sich nirgends wirklich sicher
fühlen können. Es „will niemand wissen, dass die Zeitgeschichte eine neue
Gattung von Menschen geschaffen hat – Menschen, die von ihren Feinden ins
Konzentrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt
werden.“ (S. 12) Weil sie nicht wissen können, ob sie in ihrem Aufnahmeland
bleiben können oder morgen doch nicht wegen einer Änderungen der politischen Großwetterlage
wieder weiter fliehen müssen, wird das
Leben zu einem Leben im Wartestand, das die heimatliche Vertrautheit hinter
sich gelassen hat, ohne eine neue zu gewinnen. Trotz aller mehr oder weniger
erfolgten kulturell-sozialen Assimilationsversuchen zerfließt die eigene Identität.
„Unsere Identität wechselt so häufig, dass keiner herausfinden kann, wer wir
eigentlich sind.“ (S. 25). Am Ende stehen Menschen, die mehr als eine
Heimat verloren haben. „Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit
des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen
eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere
Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit
unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben
unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, und unsere besten
Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden, und das bedeutet
den Zusammenbruch unserer privaten Welt.“ (S. 10/11).
Literatur:
Hannah Arendt, Wir Flüchtlinge – mit einem Essay von Thomas Meyer, Stuttgart
2018.
Alois Prinz, Hannah Arendt oder die Liebe zur Welt, Berlin 2012.